Standpunkte zu Lehre und Ausbildung

Aristoteles und Platon im Gespräch über die Kunst

In den gut 18 Jahren, die ich seit Abschluß meines Studiums vor allem am Hamburger Opernhaus gearbeitet habe, konnte ich viele junge Talente bei ihrem Weg auf die Opernbühne begleiten und ihnen im Rahmen Ihres Studiums, ihrer Arbeit im Opernstudio und während unzähliger Proben im Repertoire viele grundlegende Gedanken mitgeben und Arbeitstechniken vermitteln, damit sie diesen Weg erfolgreich als ebenso selbstbewußte wie kritisch denkende Sängerdarsteller*innen bewältigen können. In dieser Zeit habe ich durch die Auseinandersetzung mit einer Vielfalt von Regiestilen auch für mich selbst verschiedenste Methoden des inhaltlichen und szenisch-musikalischen Arbeitens ausprobiert, von denen ich nun in der eigenen Arbeit als Lehrer und Coach profitiere. Das gleichberechtigte Miteinander von Text und Musik ist dabei der Anfang und die Grundlage einer Arbeit, an deren Ende die Studierenden nicht nur als starke und mutige, sondern auch als sich und ihres künstlerischen Könnens selbstbewußte Darsteller*innen auf die Bühnen der Welt gehen.

Drei Dinge sind mir dabei mit Blick auf diese pädagogische Arbeit besonders wichtig.


VERANTWORTUNG

Unsere künstlerische Arbeit ist ein großes Privileg, das entsprechend verbunden ist mit großen Verantwortungen: für uns selbst, für unser Publikum und für das Theater als Ort lebendiger gesellschaftlicher Begegnung. Die szenisch-musikalische Probe ist ein sensibler emotionaler Raum der Annäherung an Geschichten und der Auseinandersetzung mit Konflikten. Entsprechend beruht unsere künstlerische Arbeit nicht nur auf Offenheit, Neugier und Toleranz, sondern sie verlangt auch ein hohes Maß an Vertrauen, Hingabe und Diskursfähigkeit. All dies möchte ich im Arbeitsprozeß immer bewußt und lebendig halten.

Die Kunst ist der wichtigste und vielleicht letzte Freiraum, in dem wir unsere Weltbilder anhand von alten und neuen Geschichten hinterfragen, unsere möglichen Positionen bestimmen und unser gesellschaftliches Miteinander kontrovers verhandeln. Sie ist aber ebenso auch ein Ort der Unterhaltung und Zerstreuung. Beide Aspekte gehören zueinander, denn in der Komödie wird ebenso wie im Drama hinter allen Geschichten immer die Widersprüchlichkeit unseres Lebens und meist auch die vermeintliche Unlösbarkeit emotionaler Konflikte reflektiert. Das Gesellschaftliche spiegelt sich dabei im Privaten, das Paradoxon Mensch vor allem im Intimen. In diesem Sinne haben wir mit allem, was wir auf der Bühne tun, neben aller unterhaltsamer Heiterkeit oder erregender Emotionalität immer auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Das dürfen wir zu keiner Zeit vergessen, gerade jetzt nicht!


BEWUSSTSEIN

Deshalb kommt es mir in der Ausbildung vor allem darauf an, den richtigen Umgang mit den Werken aller Genres zu finden, denn wir spielen immer für ein heutiges Publikum. Das Theater (und vor allem die Oper) ist dabei wie ein Seismograph unseres Fühlens und Denkens. Um so wichtiger ist es, sich immer und in jeder Proben- oder Aufführungssituation bewußt zu halten, dass das Theater ein SPIEL ist. Nicht ICH stehe auf der Bühne, sondern eine FIGUR. Ich leihe der Figur als Darsteller*in lediglich meinen Körper, meine Stimme, meine Erfahrungen und Empfindungen. Ich präge und gestalte einen Charakter durch meine Wahrnehmung der Welt und durch meine Einstellungen zum Leben, aber vor allem durch meinen kritisch hinterfragenden Umgang mit Text und Musik und den möglichen Widersprüchen zwischen diesen beiden Sprachen. Ein Regisseur, der zur Sängerin sagt: „Du mußt das und das fühlen!“ verwechselt Kunst und Wirklichkeit. Die vorschnelle, aber nur vermeintliche Identifikation von Darsteller*in und Figur führt immer in die Irre: das Ergebnis ist dann ein heuchlerisches Betroffenheitstheater, ein Vorgaukeln etwaiger Wirklichkeit, eine billige Blendung des Publikums.

Ich möchte das Gegenteil erreichen und erwarte das auch selbst, wenn ich als Zuschauer im Theater sitze. Das Publikum möchte ernst genommen werden und sich eigenständig mit den auf der Bühne erzählten Geschichten auseinandersetzen, sich darin spiegeln und wiederfinden können. Der Schlüssel zu dieser einzigartigen Qualität des Theaters, in dem wir gemeinsam sitzen, sind das Bewußtsein des Darstellers von seiner Figur im Augenblick des Spielens und der kritische Abstand der Sängerin zu ihrer Rolle im Moment des Singens. Ich nenne dies nach Brecht die DIALEKTISCHE DISTANZ. Sie schenkt uns den wertvollen gestalterischen und ästhetischen Freiraum für unsere künstlerische Arbeit, in der wir Figuren stellvertretend für uns singen, sprechen und agieren lassen. Diese bewußte Wahrnehmung und den produktiven Umgang mit dieser Distanz im Bewußtsein der Studierenden zu verankern ist für mich ein wichtiger Anreiz in der Auseinandersetzung und Erarbeitung von Figuren und Charakteren, denn nur sie macht es möglich, aus und über sich heraus zu gehen!


WAHRHAFTIGKEIT

Dieses Kunststück, also das überzeugende Spiel auf der Bühne, gelingt aber nur, wenn wir auf dem Weg zu unserer subjektiven Empfindung und zum Ausdruck einer Figur uns nicht vom füllenden Blendwerk vorschneller Kreativität ablenken lassen, sondern wahrhaftig nach dem Ursprung, dem Inhalt und den möglichen Zielen einer Szene suchen. Es gibt dabei kein Richtig und kein Falsch, auf der Bühne können auch mehrere Wahrheiten nebeneinander und im Widerspruch existieren (deshalb ist das Theater ja auch unsere wertvollste Kunstform).

Am Anfang einer jeden künstlerischen Arbeit auf der Bühne steht für mich deshalb immer die Frage nach dem WARUM. Erst danach können Fragen nach dem WER, WAS und WIE, WOFÜR oder WOGEGEN beantwortet werden, dies gilt vor allem in der Oper, denn: das Singen ist keine Alltagssprache, sondern ein emotionaler Ausnahmezustand, ein konzentrierter, verdichteter und oft auch erregter Zustand einer Figur, der so ins existentielle Extrem gesteigert ist, dass nur noch der Gesang als einzig authentischer,  glaubhafter und damit notwendiger (also: eine Not wendender) Zustand und Ausweg aus der Krise der Figur in Frage kommt. Daher muß dieser Zustand bewusst hergestellt, seine Berechtigung und seine Glaubwürdigkeit motiviert werden.

Die Oper ist mehr als jede andere Kunstform ein extremer Ausdruck jenseits des Alltäglichen, und deshalb ist jedes oberflächliche, gefällige, trendige oder auch nur aktionistische Modernisieren dieser alten Gattung ein Irrtum.
Die alte (und auch die zeitgenössische) Oper ist viel mehr gerade dann besonders sexy, lebendig und zeitgemäß, wenn man sie nicht dekoriert, sondern allen äußerlichen und ablenkenden Schnickschnack wegläßt und sich ganz auf die innere Essenz eines Werkes in Inhalt und Form einläßt; und wenn man dabei als Darsteller oder Sängerin den Mut hat, dabei immer nicht nur an die Grenzen des Üblichen und Menschlichen, sondern auch darüber hinaus zu gehen, wird es für das Publikum spannend und das Geschichtenerzählen in der Oper behält seine Relevanz.


Oper ist die schönste und intensivste Form der Konfrontation des Menschen mit sich selbst und mit seiner Unvollkommenheit. Sie ist ein Fest des Leidens und des Scheiterns, und gerade darin ist sie schön und wahrhaftig. Dieses Bewusstsein zu vermitteln und als Chance zu begreifen, muss immer Anliegen und Motivation für jede Probe sein, damit der sängerische Ausdruck nicht nur überzeugend, sondern eben auch glaubwürdig, fesselnd und mitreißend (also: Not wendend…) wird, denn mit der einzigartigen Kraft des Gesanges ist die Oper allen anderen Künsten gnadenlos überlegen, sie ist viel mehr als nur ein Fest der Sinne: sie ist eine Zumutung und eine Überforderung im schönsten Sinne des Wortes – und wir dürfen uns dieser Überwältigung gern hingeben…
(Hamburg, Herbst 2022)

arbeiten als regisseur (auswahl)

Gerd Kühr

Stallerhof Diplominszenierung an der HfMT Hamburg 2006

Giacomo Puccini

La Bohéme Theater Freiburg 2007

Gerhard Schedl

Pierre et Luce 2007
Totentanz anno 9 2007
S.C.H.A.S. Staatsoper Hamburg, Opernstudio 2007

Bohuslav Martinu

Die Komödie auf der Brücke 2011

Moritz Eggert

Wir sind daheim Staatsoper Hamburg, Opernstudio 2011

Luke Bedford

Seven Angels Staatsoper Hamburg, Opernstudio 2013

Moritz Eggert

Teufels Küche  Kampnagel Hamburg 2014

Samuel Penderbayne

Trialog Kampnagel Hamburg 2019

Jay Schwartz

Narcissus und Echo  E-Werk Freiburg 2020

wiederaufnahmen als spielleiter (auswahl)

A. Berg

Wozzek Regie Peter Konwitschny

B. Britten

A Midsummer Nights Dream Regie Simon Phillips

C. Debussy

Pelleas et Melisande Regie Willy Decker

G. F. Händel

Alcina Regie Christof Loy

J. Massanet

Werther Regie Vincent Boussard

J. Offenbach

Les Contes d’Hoffmann Regie Vincent Boussard

F. Poulenc

Dialogues des Carmelites  Regie Nikloaus Lehnhoff

G. Puccini

Butterfly Regie Vincent Boussard
Tosca Regie Robert Carsen
La Fanciulla del West Regie Vincent Boussard

G. Rossini

La Cenerentola Regie Renaud Doucet

W. Rihm

Das Gehege Regie Matthew Jocelyn

A. Schönberg

Erwartung Regie Matthew Jocelyn

R. Strauss

Rosenkavalier Regie Marco A. Marelli
Salome Regie Willy Decker

G. Verdi

Don Carlos Regie Peter Konwitschny
Rigoletto Regie Andreas Homoki
Otello Regie Vincent Boussard
Un ballo in maschera Regie Vincent Boussard

R. Wagner

Holländer Regie Marco A. Marelli
Meistersinger Regie Konwitschny
Parsifal Regie Robert Wilson
Lohengrin Regie Peter Konwitschny

C.M. von Weber

Freischütz Regie Peter Konwitschny

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen